1999 Leopold

Diethard Leopold

Diesseits des Vorhangs
Vorläufiges zu den Bildern von Fritz Ruprechter
1999

FENSTER

Das Werk Fritz Ruprechters begleitet mich seit einigen Jahren und wir haben für einander eine gewisse intime Nähe entwickelt. Deshalb ziehe ich mich nicht auf abstrakte Kategorien zurück, wenn ich mich durch Worte in Richtung dieser Verwandtschaft drehe, sondern stelle das Gemeinsame von diesen Werken und mir heraus.

Man hat gesagt, Bilder sind wie Fenster, und ich erinnere mich dabei an René Magrittes berühmte Bilder condition humaine, wo in einer Version vor offenem Fenster eine Leinwand steht, die genau die Landschaft wiederzeigt, die sozusagen draussen liegt. Ein doppel-bödiges Bild, das die zweifache Funktion von Fenstern anklingen lässt. Zum einen geben sie den Blick auf ein Aussen frei, sie zeigen die Welt draussen. Zum anderen jedoch verändern sie das Innen, das Zimmer, das ein Fenster hat. Ein Zimmer, das ein Fenster oder das noch ein Fenster mehr bekommt, verändert sich in seinem Innencharakter.

Genauso ist es mit den Bildern, die man sich an die Wand hängt: sie öffnen den Blick in eine bestimmte Welt hinaus, nämlich in die, die das Bild zeigt. Gleichzeitig jedoch verändern sie den Raum, in dem sie hängen, durch ihre Anwesenheit. Wie ein Wesen, das sich in einem Raum befindet und das - ob es das nun will oder nicht, ob es das nun weiß oder nicht, und ob wir das wissen oder nicht - seine Wirkung auf den Raum hinein entfaltet. Sich Bilder aufzuhängen heißt, freiwillig das Risiko einzugehen, sich einer bestimmten Wirkung, einer jeweils anders zu bestimmenden, spezifischen Magie auszusetzen.

Was sind das nun für Fenster, die Fritz Ruprechter in unseren Raum schneidet? Zeigen sie auf eine Welt hinaus? Wohl kaum. Man muss symbolisch verbogen sehen, wenn man in diesen Linien, Farben und Flächen etwas Gegenständliches wiedererkennen will. Daher sind seine Werke auch nicht abstrakt zu nennen, denn in ihnen wird nicht von etwas Vorhandenem abstrahiert.

Der Künstler selbst nannte sein Werk mit Vorliebe "konkret". Das löste bei mir eine Betrachtungsweise aus, die zuerst einmal erheiternd war. Ich nehme solche unmittelbaren Reaktionen ernst, denn dann ergeben sich interessantere Wege. Lachen ist ja - neben anderem - eine Form der Abwehr, die Aspekte impliziert, die man sich nicht wahrzunehmen erlaubt, die jedoch, nimmt man sie in den Blick, zu einer Erweiterung des Feldes führen.

Wenn also Bilder wie Fenster sind, die in eine Welt hinaus zeigen, während sie gleichzeitig das Rauminnere durch ihre Anwesenheit verändern, dann sind die Werke Fritz Ruprechters am ehesten den Vorhängen vor Fenstern zu vergleichen. Da erscheinen sie wie eigentümlich gestaltete Vorhangmuster, unaufdringlich, vielleicht ein wenig japonistisch und die ganze Zeit über leicht irritierend. Folgen wir dieser Metapher ein Stück.

VORHÄNGE

Ein Vorhang setzt dem Sehen eine Grenze zur Welt draußen. Er macht ein Zimmer zu einem Raum, der sein Äußeres aktiv ausschließt und in dieser Ausschließung bleibt. Das ist etwas anderes als Fenster zuzumauern. Im Fall der Zumauerung erleidet das Zimmer seine Abschließung, es kann sozusagen nichts mehr dagegen unternehmen. Im Fall des Vorhangzuziehens jedoch wird die Ausschließung gewollt, sie ist temporär und könnte wieder rückgängig gemacht werden.

Die Verinnerlichung, die durch einen Vorhang in Gang gesetzt wird, ist aktiv. Das Zimmer wird dadurch, dass ich die Vorhänge zuziehe, zu meinem eigenen, aktuellen Weltraum gemacht, zu meinem "Weltinnen-raum". Dieser Weltraum hat durch die Vorhänge auf einmal eine überschaubare Größe erreicht. Er reicht nur so weit und genau so weit, wie auch ich wahrnehme. Ich kann ihn total ausschreiten. Er ist so groß wie mein zurückziehendes Ich. Das ist ja das Gemütliche daran, wenn man abends die Vorhäge zuzieht. Vorhangbilder sprechen von der Abendseite der Existenz, mehr von der Introversion, von Winterlichkeit. Aber so wie Fenster schließen Vorhänge nicht nur ein Außen aus, sondern transformieren gleichzeitig den Innenraum, den sie begrenzen. Ein groteskes Gegenbeispiel macht die Sache deutlicher. Es wird anekdotenhaft erzählt, dass Sperlinge versucht hätten, Trauben aus einem Bild des altgriechischen Malers Zeuxis zu picken. Dieser rühmte sich darob seiner illusionistischen Malkunst, musste sich aber von Parrhasios geschlagen geben. Dieser nämlich bat den Zeuxis zu sich ins Atelier und forderte ihn auf, den Vorhang von seinem neuen Bild beiseite zu schieben - doch der Vorhang war selbst gemalt, der Vorhang war das Bild. Wenn man sich einen solcherart gemalten Vorhang vorstellt und ihn mit Fritz Ruprechters Werken vergleicht, fällt zweierlei auf: Erstens ist der Vorhang auf dem illusionistischen Bild selbst ein Gegenstand der Darstellung, während Ruprechters Werk eine Abkehr von gegenständlicher Wirklichkeitserfassung motiviert. Und zweitens erzeugt das Trompe-l'œil-Bild vom Vorhang nur eine negative Abschließung, ein negatives Nichts, ein leeres Innen. Während Ruprechters Werke dieses Innen zwar nicht mit Gegenständen, wohl aber mit Strukturen, mit rhythmischen Verläufen, kurz, mit Leben erfüllen. Was aber ist eine Innenwelt ohne Gegenstände? Ist sie nicht bloß nichts?

INNENWELT

Hier komme ich auf meine Verbundenheit meiner Person mit der des Künstlers zu sprechen, die die meisten bloß als privat ansehen würden, die ich jedoch zusätzlich karmisch nenne, und die auch die mir wesentlichste Verbindung mit seinem Werk dastellt. Symptomatisch drückt sich das so aus, dass wir uns in Japan kennengelernt haben und dass wir beide leidenschaftlich japanische Bogenschützen, Schüler des Kyudo sind.

Wir teilen auch ein mehr als intellektuelles Interesse am Zen, also am Leben jenseits von Denken, am Zulassen dessen, was man gegenständlich erfassen kann, mithin an einer Innenwelt ohne Gegenständlichkeit, die im Grunde die ganze gegenständliche "Außenwelt" umfasst.

Wir stellen uns ein leeres Zimmer vor, das Zimmer, wie wir es uns schon immer gewünscht haben, leer und von einer mittleren Helligkeit. Das Zimmer hat auf allen vier Seiten Fenster, genau die Fenster, die wir uns schon immer gewünscht haben. Aber das Zimmer hat keine Tür. Wie wir hereingekommen sind oder wie wir jemals wieder hinausgelangen werden, das wissen wir nicht, aber es macht uns auch nichts aus.

Das Zimmer ist leer, wie gesagt. Aber es hat eines, nämlich Vorhänge, Vorhänge vor allen Fenstern und zwar zugezogene. Genau die Vorhänge, die wir uns schon immer gewünscht haben. Dieses Zimmer lebt von diesen Vorhängen, die Art und Weise dieser Vorhänge strukturiert den ganzen Raum. Oder besser gesagt, wir, die wir mitten im Zimmer sitzen, strukturieren diesen Raum mit Hilfe der von uns gewählten Vorhänge.

Es gibt keinen Unterschied zwischen uns und den Vorhängen, keinen Unterschied zwischen uns und diesem Zimmer, zwischen uns und der Raumstruktur. Es ist wesentlich für das aktuelle Erleben dieses Raumes, wie diese Vorhänge aussehen. Vielleicht sind sie aus hellem, locker gewebtem Leinen oder aus heller durchscheinender Seide, denn wir identifizieren uns mit der Leichtigkeit des Lichts.
Oder die Vorhänge sind aus schweren, dunklen Materialien, aus dunkelblauem Samt zum Beispiel, denn wir identifizieren uns mit der selbstzufriedenen Schwere der Dinge. Oder die Vorhänge sind gemustert, schwingen Arabesken, ziehen sich zusammen wie Blüten, sind imaginäre Gartenlabyrinthe, denn wir identifizieren uns mit der reizvollen Geheimnishaftigkeit des Lebens. Und so weiter.

Diese Vorhänge, diese Kunst, eröffnen keinen Blick auf eine sichtbare Welt, sondern versetzen in eine bestimmte Stimmung, in eine bestimmte Haltung, in eine bestimmte Wahrnehmungsweise. Diese Vorhänge, diese Kunst beschreiben keine Gegenstände, keine Gestalt, sondern sie zeigen sozusagen den sonst unsichtbaren Grund, auf dem oder durch den Gegenstände und Gestalten überhaupt erst erscheinen. Einen jeweils anders strukturierten Grund, auf dem auch jeweils andere Gegenstände, andere Gestalten erscheinen, kristallieren.

Nicht Wahrgenommenes wird durch solche Kunst geschaffen, sondern was geschaffen wird, ist eine Situation des Wahrnehmens, eine bestimmte Situation jeweils anders zu bestimmenden Erlebens.

DAS FATOLOGISCHE GEWEBE

Die Frage, die sich daher stellt, ist die, welche Art von Situation durch Ruprechters Werk evoziert wird. Da fällt einem sogleich das Konstruktive, klar Konturierte der Situation auf, in die uns Ruprechter stellt. Was erzählen diese Konstruktionen über die Welt? Oder besser, welche Welt wird von ihnen begründet?

Diese Welt zeigt zum ersten ein regelmäßiges Nebeneinander von gleichen Voraussetzungen, Anfän gen und Zielen, gleichen Breiten und Längen. Die unein-holbare Vielfalt der Wirklichkeit wird zurückgeführt auf eine entindividualisierte Gleichförmigkeit, die wertendes Vergleichen, andere ausschließende Eigenbezüglichkeit, die Idiosynkrasie persönlicher G'schichterln nicht kennt.

Zum anderen spiegelt diese Welt die Vielfalt konkreter Wirklichkeit durch Bandführungen, die jeweils anders verlaufen, ohne doch eine prinzipielle Gleichförmigkeit zu verleugnen.

Diese Lebenslinien, wenn man so will, oder diese Ereignisse, allgemeiner gesprochen - denn diese Bilder legen auf keine bestimmte Zeitlichkeit fest, das heißt, es könnte sich um sehr kurze oder um sehr lange Ereignisse handeln, das ist hier ganz offen gelassen - die Phänomene sind im Prinzip gleich, aber ihre Lage in den Flächen zeichnet einen je verschieden verlau fenden Weg.

Vielleicht sind sie für den Winkel, mit dem sie die senkrechten Flächen schneiden, verantwortlich. Ihre Erscheinung wird jedoch von den Bedingungen der Grundfläche mitverursacht.

Das Verhältnis der Streifen zueinander ergibt zum einen irisierende, doch streng gefasste Muster, zum andern aber entsteht gleichzeitig der Eindruck des Unvorhersehbaren, somit im Ganzen einer Systematik, die nicht nachvollziehbar ist.

Die Erinnerung an Ordnung taucht auf, an Gesetzmäßigkeit, an Verstehbarkeit, aber sieht man länger hin, muß man zugeben, dass man die Prinzipien dieser Ordnung nur sehr oberflächlich beschreiben kann, dass man hier Gesetze nur vermutet, ohne doch den Gesetzestext im Wortlaut zu kennen. Man merkt, dass etwas wie in einer Sprache herüberspricht, die man dann doch versteht und von der man auch nicht sagen kann, ob sie von einem oder von vielen gesprochen wird, ob es eine Rede ist oder ein Durcheinander von Lebensbewegungen.

Sind das untergründig Bilder vom Leben? Oder sind das vordergründig Todesflächen, Getrocknetes, Versteinertes, das, was zurückbleibt? Und wenn es beides zugleich ist, was ist dann die Wahrnehmungsweise dieser Welt? Man kennt das doch, dieses Gefühl, dass dem eigenen Leben ein streng gemusterter Plan zugrunde liegt, dass man darüber aber nichts aussagen kann oder nicht viel, und dass das Leben außerdem, sieht man es distanziert und gegenständlich an, wie ein tragikomisches Chaos aussieht. Dass also das Leben vollkommen und sinnvoll zu sein scheint, während es sich zugleich als völlig haltlos präsentiert?

DER KÜNSTLERISCHE PROZESS

In diesem Zusammenhang macht man sich leicht Illusionen über die Machbarkeit. Über die Möglichkeiten individueller Kontrolle und Übersicht. Ich, zum Beispiel, dachte mir, als ich dieser Phase von Ruprechters Werken ansichtig wurde, dass der Fritz zuerst die einzelnen Streifen fabriziert, sie dann vor sich hinlegt und betrachtet, um sie in einer ihm gut erscheinenden Komposition anzuordnen und aneinander zu kleben. Denn wie sonst macht man es, dass etwas Schönes entsteht?

Ganz anders, wie er mir erklärte. Der Künstler macht Streifen nach Streifen und legt sie nacheinander fein säuberlich auf einen Stoß. Er hat dabei bewusst nur die zwei, höchstens drei vorangegangenen Streifen vor seinem Auge, in seiner persönlichen Erinnerung. Was davor erstellt wurde, liegt dunkel und nicht mehr gesehen im Schoß einer, wenn auch noch so kurzen Vergangenheit. Ist zu Körper geworden, undurchsichtig und von selbst, also weitgehend unkontrollierbar, weiterwirkend.

Nur die Gesamtproportion ist vorbestimmt, sodass der Schaffensprozess, in dem nur immer eins nach dem anderen drankommt, irgendwann einfach zu Ende ist.

Dann jedoch legt der Künstler die Streifen nicht vor sich hin, um taxieren und nach Belieben auszutauschen, nein, sondern er klebt sie in genau der Reihenfolge, in der sie entstanden sind, nebeneinander. Er verlässt sich auf den Schaffensprozess, von dem er nur ein Mitwirkender ist. Das Ganze ist viel weiter als er. Und so kann er sich danach neugierig und interessiert ansehen, was da wieder geworden ist.

Sich unvollkommen sein zu lassen und die mögliche Ordnung sich selbst zu überlassen im Vertrauen darauf, dass sie sich dann am besten generiert - für mich ist dies das Zimmer, die Innenwelt, die das Werk von Fritz Ruprechter motiviert.