2004 Leopold

Diethard Leopold

Bogenschiessen, etc.
Über den (Lebens)Künstler Fritz Ruprechter
2004

Zm ersten Mal bin ich ihm vor zehn Jahren in Tokio begegnet. Der Link war das gemeinsame Interesse am japanischen Bogenschießen, der Anlaß eine Ruprechter-Ausstellung. Die Werke waren formal ungemein streng, die Materialien metallen-silbrig. Ich hatte einen berührungsscheuen, harten Eindruck. Wie groß war daher die Überraschung, als im Café der Künstler selbst erschien: graue, nach hinten gebundene lange Haare, ein zerzauster Vollbart, freundliche, neugierige Augen. Eine bescheidene Haltung – vielleicht weil sich der Riese immer herunterbücken muß – und im Ganzen das Gefühl von entgegenkommender Weichheit, von Nachgiebigkeit – aber nur bis zu dem Punkt, wo das Humane die Grenze zieht. Vergleichbar dem Wasser, das auch nicht unendlich kleingedrückt werden kann. Eine stille Größe.

Das Thema war fast ausschließlich das Bogenschießen. Der mögliche Bezug zum Zen-Buddhismus, zur Geduld der Meditation, zum Nicht-Tun des Tao. Dann auch Japan, die erstaunlich moderne Ästhetik der alten Traditionen und die Skurrilitäten des manchmal so kindlichen Inselvolks. Und wieder Bogenschießen. Schon damals sprachen wir über eine Übungsstätte in Österreich. Letztes Jahr ist sie am Wienerberg Wirklichkeit geworden – gut Ding braucht Weile.

DIE BILDTAFELN

So auch die Kunst. Wir haben uns ein Jahr später in Österreich wiedergesehen, und seither begleitet mich das langsame Aufgehen einer anderen und noch immer aktuellen Werkphase, die man mittlerweile fast emblematisch mit dem Namen Fritz Ruprechters verbindet: Bilder, die vertikal aus langen, jeweils gleich breiten und scheinbar monochromen Streifen zusammengesetzt sind. Diese wiederum werden von in unregelmäßigen Abständen eingefügten, schrägen oder horizontalen Schlitzen unterbrochen. Es entsteht dadurch ein eigentümlicher und ambivalenter Eindruck aus Stille und Belebtheit, aus Systematik und Zufall, aus tragendem Grund und aufblitzenden Figuren, aus Monotonie und Vielfalt.

Wenn man diese Tafeln aus nächster Nähe betrachtet, bemerkt man aber auch eine Art von Relief, und die scheinbar glatte Oberfläche scheint an den Stellen der eingefügten Unterbrechungen wie gesprungen zu sein. Da schlägt die Wahrnehmung vom Sehen ins Spüren um: die optischen Zäsuren sind Schnitte, und was sich dem Betrachter bietet, ist mindestens im selben Maß wie der Bildeindruck das körperlich spürbare Material: eine Synthese aus aneinandergeklebten und zugleich verletzten Streifen – Verletzungen, die paradoxerweise die Streifen zum Leben erwecken. Seltsame, eigentümliche Organismen, die ihre zweideutige Magie, in den Raum, in dem sie hängen, hineinverströmen. Kühler formuliert sind es "aus Materialstreifen zusammengesetzte Bilder, deren Oberflächen mit Farbe und Wachs behandelt sind, sodaß sich eine transluzide Oberflächenwirkung ergibt und man den Eindruck gewinnt, als ob man es mit Materialien wie Marmor oder Kunststoff zu tun hätte. Es ist also eine Malerei der Materialien beziehungsweise eine Art von konzeptuellem Puzzle, also eine Kunst, die, wenn sie auch beim einen oder anderen Betrachter lyrische oder meditative Stimmungen auslösen mag, dennoch auf Kalkül und penibler Detailarbeit beruht. Eigentlich eine sehr unösterreichische Art der Malerei, bei der nicht die spontane, expressive Geste kultiviert wird oder es ein Schwelgen in Gefühlen gibt, sondern wo ein präziser Arbeitsplan angewandt wird, der Schritt für Schritt zur Entfaltung gelangt", so der Kunsthistoriker Rainer Fuchs anläßlich der bis vor kurzem gelaufenen Ruprechter- Ausstellung in der Wiener Galerie Atrium ed Arte.

DIE FABRIK

Während ich die Entstehung dieser Tafeln über die Jahre verfolgte, bekam ich auch ein Gefühl für die spezifische, lang-weilige Geschwindigkeit dieses Werkprozesses – und ebenso für die Gelassenheit des Künstlers, der nicht das Kurzlebige und jeweils Neuartige anpeilt, sondern sich untergründigen, undurchschaubareren Zeitprozessen überläßt; trägeren, schwerwiegenderen und weniger kontrollierbaren Rhythmen. Wie eine Blüte, die Jahre braucht, um aufzugehen.

Ein solcher Arbeitsprozeß hat auch ein entsprechendes Lebensumfeld. Vor Jahren ist Fritz Ruprechter zusammen mit seiner Lebensgefährtin, einer in der Entwicklungshilfe tätigen, weitgereisten Ethnologin, in eine riesige Wohngemeinschaft gezogen. Achtundzwanzig Männer und Frauen erwarben Anfang der achtziger Jahre eine alte Fabrik in Maria Lanzendorf südlich von Wien, gestalteten die Arbeitsräume in Wohnungen um und leben seither mit ihren Kindern ein Leben sowohl in Gemeinschaftlichkeit wie auch in getrennten, eigenen Wohnbereichen. Wenn man den alten, gebuckelten Hof, den die unterschiedlich hohen Gebäude umschließen, betritt, hat man das Gefühl, in einer größeren Familie aufgehoben zu sein. Jeden Moment könnte ein kleines Fest ausbrechen, von allen Seiten her könnte ein Bekannter, ein Freund auftauchen. Hier hat Ruprechter auch sein Atelier, einen Fabriksraum, der genügend Platz bietet, um auch seine größerformatigen Bildtafeln zu lagern. Die Atmosphäre ist ruhig und gelassen, sanft und eher dunkel, die Einrichtung basic und bequem. Überall Bilder, Versuche, Werkzeug, Entstehendes. Täglich erforscht er in diesem Laboratorium die Bewegungen der sich langsam entwickelnden, konkreten Kunst. Manchmal sind das auch bloß farbige Pinselstreifen auf Schulheftpapier – Tagebuchblätter? Mönchische Übungen?

Nur wenige Schritte entfernt, zur sogenannten "Bachseite" hinaus, Ruprechters Wohnbereich: durchgängig helle, weiße Räume, sauber, kühl und klar, wie purifiziert; fast leer auch – ein eigentümlicher Gegensatz zum Atelier. Hände eines Buddhas aus Thailand. An der Wand

eine Tuschezeichnung von Hakuin sowie Arbeiten von Josef Albers und der künstlerisch verwandten Agnes Martin. Ganz oben unterm Dach hat sich der Künstler zusammen mit Mitbewohnern, die er für dieselbe Kunst begeistert hat, eine private Übungsstätte zum Bogenschießen eingerichtet. Täglich ist er nun auch dort und müht sich am Paradox aus Geschehenlassen und Tun, aus Annehmen und Verwirklichen. Mittlerweile unterweist er auch andere auf dem "Weg des Bogens".

UNBEKANNTER CODE Man hat Ruprechters Bilder mit Partituren verglichen, mit Musiknotationen, mit Sprache im weiteren Sinn. Tatsächlich gibt es eine Analogie zwischen kodierten Aufzeichnungen mit der Struktur dieses künstlerischen Werkes. Denn einerseits braucht man eine Art von System als Grundlage der Aufzeichnung, einen tragenden, gleichbleibenden Grund, ein Alphabet oder die fünf Linien einer Musikpartitur, in die dann in unregelmäßiger Folge die Noten als Unterbrechungen der Linien eingefügt werden. Wer aber könnte das verstehen, ohne zu wissen, was unsere Musik ist? Wer könnte ein einsprachiges Wörterbuch lesen – noch dazu in einer fremden Schriftart?

So ähnlich ergeht es dem Betrachter von Ruprechters Bildtafeln. Man glaubt eine Schrift zu erkennen oder, allgemeiner gesagt, einen Code. Denn man sieht eine Systematik und, darin eingefügt, eine andere, in scheinbar zufälliger Folge eingesetzte Rhythmik. Doch so sehr das Gefühl einen glauben macht, unmittelbar vor der Entschlüsselung dieser Botschaft zu stehen, so sehr schlägt das geweckte Interesse auch wieder ins Leere. Genau diese Erregung – deren Objekt immer wieder nah zu sein und immer wieder zu entgleiten scheint – macht die Effizienz von Ruprechters Werken aus. Sie motivieren dazu, die Wahrnehmung "offen" zu halten.

Was würden etwa extraterrestrische Wesen sagen, wenn sie jenes Raumfahrzeug fänden, mit dem man bestimmte menschliche Glanzleistungen – die Hmoll Messe, die Masse-Energie Formel – abstrakt kodiert mitgeschickt hat? Sie würden es nicht lesen können, aber vielleicht würden sie verstehen, daß hier etwas ganz anderes als das, was sie gewohnt sind, zu verstehen wäre. Bei Ruprechter ist es ebenso, nur in umgekehrter Richtung: Er scheint eine Antenne für unbekannte Botschaften zu haben, und seine Werke geben diesen so attraktiven wie unleserlichen Code wieder. Und die Art und Weise, wie er lebt, ist vielleicht die notwendige Bedingung dafür, eine Antenne für ganz anderes als das, was wir gewohnt sind, in Betrieb zu halten.