2018 Ingruber

Rudolf Ingruber

Zur Eröffnung der Ausstellung in der Galerie in der Mitte Hopfgarten
2018

Jeder, der schon einmal ein Bild an die Wand gehängt hat, kennt das: Man sucht einen geeigneten Platz, vielleicht auch nur eine freie Stelle, wo das Bild – eine Zeichnung, eine Fotografie, ein Gemälde – gut zur Geltung kommt. Es soll ja sowohl eine repräsentative als auch eine dekorative Aufgabe erfüllen. Der einfachste Fall wäre eine leere, glatte, weiße Wand, deren Koordinaten, Höhe und Breite, zu jenen des Bildes in ein bestimmtes Verhältnis gesetzt sind.

Es gibt aber auch Bilder, die die ganze Wand einnehmen und diese selber zum Bild werden lassen. Das kann ganz trivial durch ein seriell wiederholtes Tapetenmuster geschehen oder durch ein Kunstwerk wie Leonardos „Abendmahl“ im Refektorium von S. Maria delle Grazie in Mailand. In beiden Fällen jedoch hängt die Wirkung – abgesehen vom Darstellungsgegenstand – davon ab, wie sich die Koordinaten der Wand im Bild widerspiegeln. In Leonardos Abendmahl herrscht z. B. vollkommene Symmetrie, mit Jesus in der Bildmitte, auf die sich die Handlung und die perspektivischen Linien der Raumkonstruktion gleichermaßen beziehen.

Neben dem Tafelbild und dem Wandbild gibt es aber noch eine Reihe weiterer Bildmöglichkeiten. Denken Sie an die Buchmalerei, die ihre Blüte zwischen dem 8. und dem 13. Jahrhundert, dem Book of Kells und dem Psalter Ludwig des Frommen, erlebte und noch einmal anderen Gesetzmäßigkeiten gehorcht als das Bild an der Wand. Zwar ist auch eine Buchseite durch ihre Ränder, also durch Höhe und Breite, definiert, doch gibt es beim aufgeschlagenen Buch immer zwei gegenüberliegende Seiten, deren Ästhetik aufeinander abgestimmt werden muss. Eine Seite kann man auch umblättern, mit ihr eine begrenzte räumliche Bewegung vollziehen. Buchdekorationen sind daher, auch wenn sie figurale Motive aufweisen, mit einer etwas kruden Metapher als Mittelding zwischen Tapetenmuster und Abendmahl zu beschreiben: ornamental und peinlichst darauf bedacht, nicht durch perspektivische Raumillusion ein Loch in die Seite zu reißen. Die Hochkonjunktur der Buchmalerei war zu dem Zeitpunkt zu Ende, als man versuchte, die für Tafel- und Wandgemälde entwickelte Perspektivkonstruktion auf sie anzuwenden.

Unser traditionelles Verständnis ist aber gerade von der Auffassung geprägt, dass ein Bild, als Abbild, ein Stück visuell erfahrbarer Wirklichkeit repräsentiert, mit Figuren und Gegenständen im Raum. Diese Vorstellung wurde vor mehr als einem Jahrhundert durch die Kunst selber ernsthaft in Zweifel gezogen, von der Fotografie aber weiterhin prolongiert und verfeinert. Nachhaltig betroffen war in erster Linie die Malerei, die in Konkurrenz mit dem neuen Medium sich auf ihre ganz eigenen Qualitäten zu besinnen begann. Malerei ist, auch wenn sie Raum und Plastizität vortäuschen kann, zunächst einmal flach. Also ist die Fläche ein genuines Merkmal der Malerei. Auch eine Fotografie ist flach, aber ihre Fläche wird durch unmittelbare Abbildung des Raumes und seiner Gegenstände gestaltet, während sich die Malerei vom Gegenstand freimachen kann.
Malerei bedeutet auch Farbe. Farben und Flächen ergeben Farbflächen, die aber immer noch Assoziationen mit Gegenständen hervorrufen können und daher nicht ausschließlich malerisch sind. Man ist bei der Betrachtung eines vollkommen abstrakten Gemäldes häufig versucht, darin irgendwelche Gegenstände ausfindig zu machen. Das ist legitim, doch sollte man sich die Frage nicht ersparen, wie solche Erlebnisse zustande kommen. In den USA wurde diese Frage in den 1950er und 1960er Jahren durch Clement Greenberg, Harold Rosenberg und den Vertretern des Action Painting sowie der Post-Painterly Abstraction ausführlich diskutiert.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam die europäische Kunst zusehends mit anderen Kulturen in Kontakt, von denen in Bezug auf das bisher Gesagte der japanischen, woher Architektur und Malerei des Konstruktivismus entscheidende Anregungen empfingen, besondere Bedeutung zukommt. Fritz Ruprechter ist von einer solchen Begegnung nicht unberührt geblieben, hat ihr jedoch neue, individuelle Aspekte hinzugefügt. Seine Form ist die Fläche, die er aus vielen Modulen, die ihrerseits wiederum Variationen der Koordinaten des Bildträgers sind, zu eigenen Rhythmen komponiert. Schon dem ersten abstrakten Maler, Wassily Kandinsky, schwebte eine Malerei analog zur Musik vor, und Ruprechters Arbeiten erheben in gewisser Weise einen ähnlichen Anspruch. Seine Module (oder Motive) sind in Wachs getränkte Papierstreifen, die ihre Farbigkeit und ihre Haptik nicht aus der Materialität der gebräuchlichen Malerfarben beziehen und daher nicht in Verdacht geraten, etwas Anderes als sich selber bedeuten zu wollen. Allerdings öffnet Ruprechter seine Kompositionen in verschiedenste Richtungen – von der Bildtafel über die Wand und den Raum bis zur Buchseite, wovon seine Bilder und Rauminstallationen sowie der 2010 zum „schönsten Buch Österreichs“ gekürte Band „Viel/Falten“ Zeugnis ablegen.

Rudolf Ingruber