2010 Rother

Ralf Rother
Falten Falten

Man würde die Schönheit des Universums in jeder Seele erkennen können, wenn man alle ihre Falten auseinanderbreiten könnte,
während sie sich in bemerkbarer Weise nur mit der Zeit entwickelt. 
1
G. W. Leibniz

 

Fensterlos liegt die Seele in sich zusammengefaltet und spiegelt das ganze Universum. Sie dreht sich, windet sich, rollt sich auseinander und faltet sich wieder zusammen. Mit einem Schlag lässt sich der gesamte zusammengefaltete Spiegel der Seele nicht ausbreiten. Die Entfaltung des gespiegelten, unendlichen Universums geschieht in endlicher Weise und gelangt nicht an ihr Ende. So bleibt vieles in den Falten der Seele verborgen. Fast nichts zeigt sich und das Universum der Seele verbirgt sich fast gänzlich. Die eigenen Verfaltungen verwehren der Seele den Einblick in das Universum, das die gefaltete Seele an ihren Spiegelwänden in sich trägt. Ein gespiegeltes Universum, das zusammengefaltet in den Fältelungen der Seele liegt: Falten, die ins Unendliche gehen. Mithin erfasst die gefaltete Seele nur einen verschwindend kleinen Abglanz jener Schönheit, die das Universum in seinem Spiegelbild zur Schau stellen könnte, wenn sich die Falten auseinanderwickeln ließen.

Die Falten verdecken und verbergen die Schönheit des Universums. Das Sich-Zeigen des gefalteten Universums in seiner partiellen und zeitweiligen Entfaltung – in diesem Sinne lässt sich das Vorstellen bzw. das (Re)Präsentieren verstehen – fällt zusammen mit einem Sich-Verbergen des Universums in seinen Verfaltungen. Keinesfalls zeigt sich in der Entfaltung das Universum in seiner Schönheit. Das Herzeigen wird geteilt von einem Verbergen. Das Vorstellen geht immer einher mit einem Ver­stellen und Zustellen, mit Faltungen. Das sich-zeigend sich entfaltende Universum zeigt weniger sich, als dass es andere Falten wirft und sich ins Vergessen rückt. Brüche und Öffnungen sind Entfaltungen des verborgenen Universums, das sich im Öffnen, in der spärliche Entfaltung, zugleich in Falten verschließt. Im Herzeigen, in der Lichtung einer Perspektive, die sich an einer Spiegelwand der Seele abzeichnet, zieht sich zugleich das Universum zurück. Ein Öffnen, das mit einem Verschließen und Verdecken Schritt hält. Die Präsentation der Falte – ihre Öffnung, ihre Entfaltung – geschieht im Moment der Selbstverdeckung des Universums. Das Offenlegen ist eine weitere Falte der Verbergung, das Zeigen ist eine erneute Faltung der Falten, ein wiederholter Bruch, eine Lichtung, eine Linie, eine Grenze der Falte. In den Falten liegt das Universum, das sich darin verborgen zurückgezogen hat. Mit jeder Entfaltung rollt sich die Falte erneut auf und verschließt fast alles in ihren Falten.

Im § 61 der Monadologie erwähnt Leibniz diese Fältelung der Seele, die ins Unendliche geht. Das, was als Seele gefaltet liegt, sind Perzeptionen: Eine unendliche Vielheit von Perzep­tionen in der Einfachheit der Monade. Autark, unteilbar und in sich abgeschlossen ist die Monade, und dennoch befindet sich in ihrem Inneren der Spiegel – der Abdruck – des Äußeren. Fensterlos: Ohne eine Öffnung, in die einzudringen wäre. Fensterlos: Ohne eine Möglichkeit des Austretens. Ohne Augen. Ohne Mund. Ohne Nase. Ohne Ohren. Ohne Hände. Kein Atmen. Keine Einverleibung. Kein Ausscheiden. Kein Anus. Und dennoch ist eine Monade immer mit einem Körper ausgestattet, der wiederum im Verbund mit anderen Monaden und deren Körpern all jenes besitzen kann: Augen, Mund, Nase, Ohren, Hände. Nicht die Monade, sondern ein Komplex von Monaden samt ihren Körpern trägt die Organe der Sinne. Die einzelne Monade hingegen ist die Fältelung unendlicher Perzeptionen, die nicht(s) sehen, nicht(s) sprechen, nicht(s) riechen, nicht(s) hören, nicht(s) ertasten, nicht(s) schmecken. Die Fältelung rührt von Erfahrungen her, von Berührungen, die die Perzeptionen falten. In blinder Weise, ebenfalls taub und unergriffen, vernimmt die Seele ihre vielfältigen Einsichten. Einsichten in spiegelnden Abdrücken. Einsichten in die sich herzeigende Entfaltung ohne eine sinnliche Wahrnehmung durch Augen. Innenwandig, blindes Sehen. Obwohl die Monade unzerstörbar und nicht zu vernichten ist, sind ihre innenwandigen Perzeptionsfaltungen erlittene Abdrücke: Abdrücke eines erlittenen Universums. Diskrete Abdrücke eines Universums aus der Entfernung heraus. Abdrücke dessen, was nicht eindringt. Abdrücke, die von keiner Prägung oder Penetration herrühren. Abdrücke einer ursprünglichen Abwesenheit. Dennoch verändert jeder Abdruck das Wechselspiel von Berührung und Entfernung, sodass die Beziehung des Gegenwärtigen zum Werdenden und Gewesenen ebenso wie die Konstellation des Universums stets neu formiert und umgefaltet wird. 2 Leibniz hat all das in den Körper hineinverlegt, was ihm zuvor von außen her gegeben war. Der Körper ist nun individualisiert und von bewegter Kraft.

In dem Universum, das jede Monade, jede Seele spiegelt, ist alles miteinander verknüpft und verbunden, sodass jeder Körper auf jeden anderen Körper mehr oder weniger wirkt. Durch diese gegenseitige Einwirkung aller Körper aufeinander, sogar auf die voneinander am weitesten entfernten Körper, Abdrücke abwesender Körper, bildet jede Monade in ihrer einzigartig erlittenen Einwirkung der anderen Körper auf sich ein perspektivisch gespiegeltes Universum in seinen Perzeptionen. Eine blinde Perspektive des Singular / Plural. Ein Faltenspiegel des Mit-Seins und des Plurals in der Abgeschlossenheit der Monade. Deleuze betont, dass nach Leibniz die Welt ihren Platz im Subjekt haben muss, damit das Subjekt für die Welt sein kann. 3 Der Abdruck – der Spiegel – ist der abgeschlossene, einzigartige Zugang zu einer Welt jenseits der Monade. In sich trägt jede Monade nicht nur das Universum, sondern ist jeweils nichts anderes als der singuläre Abdruck eines Universums in Entfernung. Die diskreten Einwirkungen auf die Monade falten in singulärer Weise die Perzeptionen in der Monade. Da jede Monade eine andere Stellung im Universum innehat, die zudem in Bewegung ständig eine andere Konstellation einnimmt, ist jede Monade in einzigartiger Weise innenwandig gefaltet. Ein singulärer Abdruck eines globalen Mitseins. Eine singuläre innenwandige Faltung als Abdruck des Äußeren: Falte des Draußen im Innenraum, die als das Innen zugleich die Oberfläche, den Abdruck des Außen bildet. Keine Falte einer Welt, keine Spiegelung eines Ganzen, sondern ohne Referenz eine Spiegelwelt, eine Mimesis von Nichts, ein gefaltetes Nichts, das sich anzeigt zu sein.

Die Falte ist ein Wellenschlag der Perzeptionen, in denen das Universum abgelagert ist. Ein Wellenwurf dessen, was sich verbirgt. Da das Universum nicht allein die Summierung aller Monaden ist, sondern die Verfassung des Ganzen darstellt, entsteht die Konstellation bzw. die Struktur des Universums erst in der Monade, und zwar als ein Abdruck – als eine Kopie und als ein Bild –, der nur entstellt und zusammengefaltet innerhalb der Monade abgelagert ist. Das Universum als eine ursprüngliche Kopie. Ein Universum, das sich jeweils in den Monaden singulär und ursprünglich als ein Abdruck zusammengefaltet hat. In jeder Monade liegt eine Welt für sich. Eine singuläre Pluralität. Die Welt hat ihre Aktualität nur in den einzelnen Monaden. Eine Aktualisierung: Nicht all dessen, was möglich wäre. Aktualisierung ist nur das, was sich akut als Verbergung und ursprünglicher Abdruck in Erscheinung setzt. Aktualisierung als Rocksaum, als ein Gewand, als ein Faltenschlag des Universums. Das Zeigen ist stets ein Nicht-Zeigen. Dieses gefaltete Nicht-Zeigen ist der obszöne Akt des Universums. Wie kann man jedoch, wie Leibniz es macht, von der Schönheit des Universums sprechen, das in seiner Offensichtlichkeit ausgebreitet vorliegen würde, wenn sich alle Falten entwickeln ließen? Woher rührt diese Sicherheit? Woher rührt die Gewissheit in einer verborgenen Schönheit, im Gegensatz zum obszönen Akt des in Falten geschlagenen Sich-nicht-Zeigens?

Die Falte des Universums kann für Leibniz nur die Verbergung, die Verkleidung der Schönheit des Universums sein. Nur in der Verbergung kann die Falte eine Endlichkeit des Unendlichen sein. Das Universum ist es selbst, das diese Verbergung vollzieht. Ein Sich-in-Falten-Schlagen. Eine Schönheit, die sich unsichtbar, unwahrnehmbar, unbemerkbar und endlich, aber auch sterblich macht. Trotz allem wäre die Schönheit des Universums erfahrbar, wenn all seine Falten geglättet wären und sich ins Unendliche ausbreiten würden. In diesem Sinne ist in der Falte nicht die Schönheit des Universums ersichtlich, dennoch soll das Universum, das die Monade in ihren Falten trägt, die Beste aller Welten sein. Eine Welt in Gewand. Eine Wand in Falten. Gefaltete Wand in Wandlungen.

Für Leibniz sind die Falten Zeugnisse einer verborgenen Schönheit. Das ganze Universum gleicht den barocken Gewändern, drapierten Kleidern, Tüchern, Vorhängen, einem Berg von Früchten, gedeckten Tafeln, einem Meer von Vielfalt. »Wenn ich am Strande des Meeres spazierengehe und das große Geräusch höre, das es macht, so höre ich die einzelnen Geräusche jeder Welle, woraus das ganze Geräusch besteht, aber ohne sie zu unterscheiden. Ebenso sind unsere verworrenen Vorstellungen das Resultat der Eindrücke, die das ganze Universum auf uns macht.«4 Die opulente Welt der Überfülle gibt in der Faltenwelt spärliche Felder der Klarheit frei. Details. Gesichter. Portraits der Schönheit, umgeben von verschlungenen und in Falten geschlagenen Halskrausen, Baldachinen und Umhängen.

Wie jede Faltung, wie jede Faltung der Perzeptionen, so ist jede existierende Welt zufällig. Ebenso sind in der Unendlichkeit des Zufalls unendlich viele andere Welten wie andere Verfaltungen möglich. Das Verhältnis von potentiellen Welten und einer aktualisierten, aber besten Welt verlangt eine Entscheidung zur Auswahl und erfordert damit die Klärung über die Beziehung zwischen Gott, dem Urheber der Welt, und dem Übel in der Welt. Als potenzielle Welten, die nicht aktualisiert werden, liegen diese unendlichen Möglichkeiten in den Schächten einer Pyramide verborgen. Leibniz erzählt diese Parabel von der Pyramide in seinen Studien zur Theodizee. 5 Die Pyramide ist ein riesiges Grab mit unzähligen Grabkammern, an deren Spitze die wirkliche Welt sichtbar ist, deren Basis jedoch ins Endlose fortwächst. In jeder einzelnen Kammer, unterhalb der Kammer, die die wirkliche Welt in sich trägt, befindet sich jeweils eine Welt, die möglich wäre, jedoch nicht aktualisiert wurde. So liegen in den Grabschächten der Pyramide unendlich viele Welten in ihrem Nicht-Sein bestattet. Tote Welten, die nie existierten und nie existieren werden. Die Beste aller Welten ist die Welt, die ist und somit den aktuellen Moment des räumlich und zeitlich unendlichen Universums darstellt. Diese Welt existiert nicht, weil sie die Beste ist, sondern sie ist die Beste, weil sie existiert.

Hegel urteilt spöttisch über Leibniz’ Theodizee, dass sie nur eine Rechtfertigung Gottes für die Übel in der Welt sei 6 und vom Optimismus einer prästabilierten Harmonie ausgeht, der eine Entwickelung von Faltungen folgt. Im Gegensatz zum Universum bei Leibniz, das sich entwickelt und entfaltet, in das die Seele Einsicht zu finden sucht, geht die Welt des absoluten Geistes bei Hegel, die einzig mögliche und notwendige Welt, aus der dialektischen Bewegung des Selbst, aus dessen Tun, einer end­lichen Arbeit der Negation, ein bebilderter Vorgang der Selbstverdauung, hervor: »Dies Werden stellt eine träge Bewegung und Aufeinanderfolge von Geistern dar, eine Galerie von Bildern, deren jedes, mit dem vollständigen Reichtume des Geistes ausgestattet, eben darum sich so träge bewegt, weil das Selbst diesen ganzen Reichtum seiner Substanz zu durchdringen und zu verdauen hat. Indem seine Vollendung darin besteht, das, was er ist, seine Substanz, vollkommen zu wissen, so ist dies Wissen sein Insichgehen, in welchem er sein Dasein verläßt und seine Gestalt der Erinnerung übergibt. In seinem Insichgehen ist er in der Nacht seines Selbstbewußtseins versunken, sein verschwundenes Dasein aber ist in ihr aufbewahrt; und dies aufgehobene Dasein – das vorige, aber aus dem Wissen neugeborene – ist das neue Dasein, eine neue Welt und Geistesgestalt.«7

Nichts ist ohne Grund. In der Vorlesung, die Heidegger 1955 / 56 in Freiburg unter dem Titel Der Satz vom Grund hielt, erinnert er daran, dass Leibniz nicht nur mit seinen Arbeiten zur Monadologie und zur Theodizee Bekanntheit erlangte. Von Leibniz stammt auch der Satz vom Grund, jener Grundsatz aller Grundsätze. Neben den Sätzen vom Widerspruch, vom Unterschied und von der Identität, gehört der Satz vom Grund zu den großen Prinzipien der Vernunft. Der Satz vom Grund – »Nichts ist ohne Grund« – besagt erst einmal, dass der menschliche Verstand stets und überall einen Grund, d. h. eine Ursache, zu den Vorstellungen seiner Wahrnehmung sucht. Zum Vorstellen eines Gegenstandes oder einer Erkenntnis, die als eine Art Vorstellung gilt, gehört jeweils eine der Vorstellung mitgelieferte und zugereichte Begründung. In diesem Sinne formuliert der Grundsatz das Prinzip der Kausalität, das positiv ausgedrückt lautet: »Jedes Seiende hat einen Grund.« Demzufolge heißt es vom Grundsatz weiter, dass jedes Seiende, das ist, einen Grund hat und damit innerhalb des Universums notwendig ist.

Anhand der Dichtung des Angelus Silesius nimmt Heidegger jedoch eine Verschiebung der Auslegung vor und fügt dem Satz vom Grund eine Differenzierung von Grund und Sein an. Nach Heidegger lässt sich der Grundsatz in zwei Weisen ver­nehmen: Einerseits als »Nichts ist ohne Grund«, was soviel heißt wie »Alles hat einen Grund«. Andererseits als »Nichts ist ohne Grund« und besagt: »Jedes Seiende hat einen Grund«. In der gewöhnlichen Auffassung wird mit dem Grundsatz eine Aussage über das Seiende getroffen und nicht über den Grund oder über das Sein des Seienden. Während in dieser Fassung der Satz vom Grund das Seiende als einen Gegenstand bestimmt, der seinen Grund und seinen festen Platz (zumindest zu einem bestimmten Zeitpunkt) innerhalb einer kausalen Verkettung hat, so bleiben das Sein des Seienden wie auch der Grund (das Wesen des Grundes, wie Heidegger schreibt) völlig unbestimmt. Weder besitzt der Grund einen Grund (wie eben das Seiende seinen Grund hat), noch hat das Sein des Seienden einen Grund.

Heidegger folgert in seiner Auslegung des Grundsatzes: »In der Natur der Dinge ist ein Grund dafür, daß eher etwas ist, als daß nichts ist. Der Grund heißt Gott als die erste seiende Ursache alles Seienden.« 8 Ohne einen Grund wäre jegliches Seiende unaufhaltsam ins Grundlose fallend. Jede potentielle Welt würde ins Bodenlose stürzen, ohne Aussicht, die Beste aller Welten zu werden. Der Grundsatz ist das Prinzip des Prinzipals, der die Welt in ihren besten Zustand entscheidet. Im Pyramiden-Traum des Theodorus bei Leibniz heißt es, dass Jupiter vor Beginn der bestehenden Welt alle möglichen Welten, die in der bodenlosen Pyramide – dem »Palast der Lose« – in Gemächern gelagert werden, durchgesehen und überdacht hat, um letztlich die Beste von allen Welten zu wählen: »Noch jetzt besucht er bisweilen den Palast, um sich am Überblick über die Dinge und an der bestätigenden Erneuerung der getroffenen Wahl, die ihm Freude bereiten muß, zu ergötzen.« 9 Wenn Gott im Palast der Lose spielt und alle möglichen Welten ins Kalkül nimmt, wie die Spielsteine beim Brettspiel, dann rechnet er und es wird Welt.

Mithin setzt der Grundsatz als eine Formulierung der Kausalität ein Wissen voraus – das Wissen um eine Spielregel –, das ungedacht bleibt. Im Sinne der neuen Auslegung des Grundsatzes lässt sich weder das Wesen des Grundes, sein Geschehen, noch das Sein vom Seienden her zu bestimmen. Weder könne das Wesen des Grundes noch das Sein des Seienden als Gegenstand betrachtet werden. Das Seiende ist, jedoch ist nicht das Sein. Heidegger spricht davon, dass das Sein gründend sich ereignet. Gegründet ist allein das Seiende. Erst das Seiende hat seinen Grund. Sein ist grundlos, ist Abgrund.

In der Akzentverschiebung, die Heidegger in der Auslegung des Grundsatzes vornimmt, geht es ihm nicht mehr – wie noch Leibniz – um das Seiende, das in einer universellen Kausalität in den Blick zu nehmen wäre, es geht ihm nicht um die Betrachtung der entfalteten Falten, die wir erkennen können, sondern um den Moment der Gründung, der Seinsgründung, um den Moment, der Falte und Faltenschlag ist: Es geht ihm um den Aufriss, um die Zwiefalt, um den Aufschlag der Falte, der nichts als Falte und ihre Faltung ist. Ein Geschick, das von sich aus sich anschickt zu falten, im Moment der Faltung. Ein Moment der Differenz, der noch nicht das Eine oder das Andere ist – weder vor der Falte liegt noch auf die Entfaltung abzielt –, sondern vielmehr in der Zwiefalt des Dazwischen sich verbirgt. Wurf, Sprung. Bewegung in der Ruhe, ohne der Faltenwurf des Seins zu sein, sondern vielmehr ist die Falte das Sein: Entwurf. Lichtung als Sein, die nichts herzeigt: Kein Seiendes. Gründung, die nichts vom Gegründeten hat.

Wieso Falten? Wegen Nichts. Weil Nichts nicht ist. Quasi-Sein mit Tiefen und Höhen von Nichts. Grundlose Auffaltung. Nichts als Falten. Riskanter und bodenloser Anschein von Aufwölbung und Vertiefung. »Nicht die Oberfläche wird auf Grund gesetzt, es ist der Grund, der erscheint, der ganz und gar Oberfläche wird. Die schaumige Oberfläche ist die Geburt selbst [...].«10 In dem Aufsatz Päan für Aphrodite zeigt Nancy, wie aus der schaumigen Oberfläche des Meeres die Schönheit geboren wird. Die Göttin: Aphrodite. Die Tiefe erhebt sich zur vielfältigen Oberfläche. Schönheit ist nichts Verborgenes, das erst – nie im Hier und Jetzt – in unendlichen Entfaltungen erkennbar wäre. Schönheit ist auch nichts Gewordenes, das sich, in einer ihr gemäßen Bahn, innerhalb ihrer göttlichen Geschichte, ihrer innerlichen Werdung erst zu entwickeln hätte. Schönheit des Grundes ist bei Nancy der Schaum der Oberfläche: die Falte, die Welle, zur Oberfläche geborener Grund. Aufbrechen des Abgrundes. Ohne Erhebung, ohne Phallus, aber ebenso ohne Tiefe. Eine Schönheit, die nicht in ihren Tiefen zu penetrieren ist. Sie ist die Enttäuschung erigierter und generierender Liebe.

»Die Falte ist nicht die Falte des Seins. Die Falte ist das Sein selbst. / An der Spitze der Brust [Aphrodites Brust] faltet sich alles. An allen Spitzen, allen bodenlosen Erhebungen der anadyomenischen Tiefe faltet sich alles, faltet sich wieder und entfaltet sich, Riefelungen von überfluteten Säulen, weiche Körnigkeit dieses Haut-Sprungs, Milch-Seele.«11 Geburt der Brüste. Geburt der emporgehobenen Oberfläche. Entfaltete Faltung und verfaltete Entfaltung. Während für Leibniz sich die Schönheit des Universums erst jenseits der Falte, jenseits des Diesseits, jenseits der Endlichkeit entfaltet zeigt, ist nach Nancy das Sein exponierte Faltung. Vervielfacht und vielfältig. Haut. Grenze. Spitze. Äußerlichkeit. Bodenlose und grundlose Auf­werfung von Falten. Die Schönheit des Seins ist nicht in der Entfaltung erkennbar. Die Schönheit ist der gefaltete Schleier, die Körnung der Haut, die gewellte Oberfläche. Sie ist das Alter der Geburt und die Gebürtigkeit des Alters. Die Schönheit und der Schleier, die Schönheit und das Alter sind in Wirklichkeit vermischt. Das, was sich zeigt, ist ohne eine gegenwärtige Innerlichkeit, ist ohne eine verborgene Entfaltung, ist stets diese Wirklichkeit und Mischung von Schönheit, Faltung und Alter. Ihre Obszönität ist nicht die mögliche und geglättete Nacktheit. Obszön ist vielmehr, dass der Schleier die Nacktheit ist. Sogar die Nacktheit – explizit die der Aphrodite – ist noch ein Schleier: Eine Art von Verdeckung. Das Sein, die Exponierung, die Falte ist stets Verbergung. Anmutige Nacktheit: »Was an die Oberfläche kommt und was schäumt [Schaum der Schaumgeborenen, Göttin der Liebe und der Schönheit Aphrodite], ist ein Spalt. Der Spalt ist keine Kerbe, er ist eine Gabelung der Alge, er ist eine Frucht, eine halbgeöffnete Feige auf feuchtem Schaum. Das sind die von der Dünung beleckten Lippen. Geboren werden: Der Name des Seins. Entbunden werden, sich einen Ort eröffnen.« 12

In dem Buch Dissemination – genauer gesagt: im zweiten Teil des Abschnittes, der mit Die zweifache Séance überschrieben ist – kommt Derrida auf die Falte zu sprechen: In einem Kommentar zu Mallarmé, in dem es um die Literatur, um das Weiße, um die Mitte, um das Hymen usw. geht, heißt es, dass die Falte sich nicht mehr im Schleier befindet. Die Falte ist nicht die Falte eines Schleiers, eines Textes, der gefaltet ist und der zu entfalten wäre oder zu entfalten bliebe, sofern es diesen Schleier gäbe. Vielmehr ist die Falte in einer Doublierung, einer Doublierung ihrer selbst: »Die Falte vervielfältigt (sich,) aber (ist) nicht (eins).«13

Die Falte einer Doublierung besagt zunächst, dass die Falte ihr Außerhalb – ihr außer sich – in sich trägt, in ihrer Höhle, die zugleich in ihrem Innen das Außen ist, in der das Draußen ins Drinnen tritt, wie auch das Drinnen ins Draußen versenkt ist. In diesem Sinne ist die Falte stets das Andere ihrer selbst, um in dieser Verkehrung und Veränderung anderes zu sein. Falte ist weder sich selbst eigen noch als Anderes anders. Ursprüngliche Kontaminierung. Vervielfältigung. Zerstreuung. Weder mit sich selbst eins sein noch zerrissen durch das Eindringen des Anderen, des Draußen. Die Falte ist dann auch in ihrer Ursprünglichkeit bereits in unergriffener Weise affiziert und zerrissen durch das Draußen im Inneren. Sie ist das Unzerstörbare, das sie verletzt: Die Verletzung hat stets bereits stattgefunden und wurde zugleich niemals verübt. Niemals in Gegenwart ist sich die Falte ihr Ereignis, noch anderes. Die Falte ist der Zwischen-Akt einer Zwischen-Zeit in einem Zwischen-Raum: Eine Mitte, ein Milieu, die im Fließen und Schweben überschritten ist.

In der Entfaltung faltet sich die Falte zurück. In einer Fächerbewegung. 14 Die fließende Bewegung des Aufklappens und Zuklappens des Faltenfächers vervielfältigt und zerstreut, lichtet und verdeckt, öffnet und schließt seine Erscheinungsweisen (die unendliche Zahl von Falten, Fächern, Winkeln, Ecken, Flügeln, Schleiern, Schwellen, Scharnieren, Tüchern, …), seine phänomenologischen Strukturen, seine tropischen Bewegungen (Metaphern, Allegorien, Metonymien, Symbole, Parabeln, …) und seine semischen Teile und Einheiten. Ein Überschuss an Faltungen, der immer wieder anders die Falten faltet. Weder die Falte noch ihre Entfaltung ist die Wahrheit der Falte, oder die ihrer Ent­faltung: »Es gibt keine alētheia, allein ein Zwinkern (clin) des Hymens. Ein rhythmisch skandiertes Fallen. Eine abfallende (inclinée) Kadenz.«15 Disseminiert gewebte Falten. Falten des Nichts. Eine Jungfräulichkeit, die das ist, was sie stets im Zufügen einer weiteren Drehung verletzt und nicht ist.

Falten rühren an der Darstellung. So wie für Leibniz die Falten an ihren Wänden das gesamte Universum gespiegelt tragen, so spiegelte, imitierte, bedeutete die figurative und vor-abstrakte Kunst für den naiven Betrachter etwas, das nicht das Darstellende (Leinwand, Farbe, Linie, Punkt, Fläche usw.) ist. Die Falten der Monade wie die imitierende Kunst sollten in ihrer Entfaltung jenes repräsentierend in sich tragen, das unabhängig und jenseits von ihnen liegt. Darstellung von etwas, das auch unabhängig von der künstlerischen Darstellung vorlag – und als eben dieses Etwas erfahren, gesehen oder gedacht werden konnte –, bzw. als Gottes beste Welt existierte, zu der die Monade samt ihrer gefalteten Darstellung nur als ein Teil der Welt, als eine Perspektive, gehörte.

Im Verständnis vorabstrakter Kunst bedeutete das Kunstwerk jeweils Etwas. In seiner Vollendung deutete das Kunstwerk imitierend, vorstellend, darstellend, reproduzierend, abbildend oder konstruierend auf Phänomene, um mimetischen, symbolischen, ikonischen oder allegorischen Sinn zu produzieren. Fortführend schreibt Hamacher in dem Text Maser: » › Verwiesen ‹ wird in der neuen, der › abstrakten ‹ Malerei nicht mehr auf Referenten der gesellschaftlichen oder religiösen Realitätskonvention – diese Konventionen, so kanonisch sie immer noch sein mögen, haben sich als Artefakte herausgestellt –, › verwiesen ‹ wird nicht auf innerzeitige oder innerräumliche Gebilde, die in irgendeiner Weise schon vorliegen, sondern verwiesen wird absolut. Die Bilder bedeuten noch dem naiven Blick nicht mehr Etwas, das sich auf die eine oder andere Weise namhaft machen ließe – Gegenstände, Funktionen, Begriffe –, sondern sie tun nichts anderes mehr als bedeuten.« 16

Bedeuten, ohne dass das Bedeutete schon vorliegt. Darstellen, ohne dass ein vorgegebenes Etwas dargestellt wird. Benennen, ohne dass es ein Benanntes schon gibt. Die Kunstdarstellungen sind nicht sinnvoll, weil sie Etwas reproduzieren oder auf Etwas zeigen, das ihnen vorliegt. Die Darstellungen haben Sinn bzw. sind Sinn, indem sie diese Bewegung sind: Bedeuten, benennen, verweisen, zeigen, bilden usw. Die Bildnisse sind Bildungen in der Bewegung: Hin, weg, fort, zu, nach usw. Eine Bewegung der Bildnisse, die »prinzipiell unregulierbar, in keinem Gegenüber zum Stillstand kommt und von prinzipiell keiner vorgesetzten Instanz ihren Ausgang nimmt. Ihre Bewegung verläuft nicht in den Dimensionen eines präetablierten Raums und einer Zeit, die ihr vorgegeben wäre, sondern ergibt erst den Zeitspielraum, eröffnet das Spiel des Zeitraums, entläßt den Raum der Spielzeit und ist nichts als diese Entlassung, das Spiel.«17

Anderorts schrieb Hamacher, dass zwei traditionelle Bestimmungen des Raumes unrichtig sind: Es sind die Bestimmungen über seine Ausdehnung und über seine Teilbarkeit. 18 Die Bewegung der Bildnisse, die den Zeitspielraum eröffnet, hat nichts mit einer Bewegung innerhalb der drei Dimensionen eines ausgedehnten und teilbaren Raumes zu tun, der schon vor der eröffnenden Bewegung präetabliert wäre. Die Bildnisse bewegen sich nicht in einem Raum, der zusammengesetzt ist und auseinanderzubrechen wäre. Der Raum der Bildnisse ist nicht aus Punkten oder Orten zusammengesetzt. Der Raum setzt kein Innen voraus, das durch Dehnung oder Ausbreitung zu seinem Außen kommt, in dem sich die Bildnisse bewegen, sofern sie bedeuten, benennen, verweisen, zeigen, bilden usw. In der Bewegung der Bildnisse ergibt sich erst der Zeitspielraum, die Äußerlichkeit an ihnen selbst. Die Bewegung der Bildnisse eröffnet den Raum, der Offenes und Freigegebenes ist, der nicht seine Grenze da besitzt, wo er sich abgrenzt und sein Außen findet. Der Raum ist nicht territorial. Der Raum hat keine Grenze, um sich vom Nicht-Raum abzugrenzen. Der durch die Bewegung der Kunstdarstellungen hergegebene Raum ist Grenze und findet in der Grenze sein Wesen. Der Raum ist der eröffnete Spielraum der Bewegung des Bedeutens, Verweisens, Zeigens, Bildens usw. Die Bewegung der Darstellung ist Zwischenraum. Dieser Zwischenraum ist kein Teil eines vorausgesetzten Raumes, sondern ist selbst die Trennung und das Zwischen. Vielmehr ist der Raum der Darstellung der freigegebene Grenzbereich, den die Bewegung der Eröffnung hergibt: Falte. Weder ist die raumeröffnende Darstellung die reine Immanenz des Materials, die Präsenz einer entfalteten Anschauung oder die bedeutungslose Arbeit, noch die Reproduktion bzw. Imitation eines äußerlichen Etwas. Die Darstellung ist mehr: »Exzendenz auf etwas anderes hin und darin selber schon anders.«19

Die Bewegung der Darstellung ist keine Abstraktion, die in einem Vorgang der Reduktion die Form vom Materiellen oder die Materie von der Form abzieht. Die Darstellung ist erst die Bewegung, die den Formen und der Materie Raum gibt. In dieser Weise ist die Bewegung der Darstellung auch nicht konkret, da sie auch erst das hergeben wird, was als das Konkrete zu nennen sein wird. Die Darstellung kommt in ihrer Bewegtheit des Bedeutens an kein Ende, um entfaltet anschaubar, gegenständlich, ergreifbar, bestimmbar und wirklich zu sein. Ihr Bedeuten ist niemals ein So-Sein, ein konkretes Sein. Sie ist weder konkret, noch die Abstraktion ihrer Konkretion. In der Bewegung des Bedeutens ist die Darstellung weder ihr konkretes Selbst-Sein, noch eine Imitation einer vorausgesetzten Andersheit. Im Bedeuten ist das Darstellen eine Geste, die sich weder auf ein Vorausgesetztes noch auf ein Kommendes bezieht oder als ein Konkretes zeigt. Die Geste der Kunstdarstellung ist Faltung und Grenzziehung. Als diese Faltung und Grenzziehung ist die Geste keineswegs raumteilend, sondern ist einerseits die Scheidung dessen, das sie erst eröffnen wird, andererseits bezeugt sie die kommende Zugehörigkeit zu dem, das nicht zueinander gehört. Neben der bewegten Oszillierung ist die Falte stets multipel. Verdoppelt sich. Vervielfältigt sich. Verschiebt sich. Wiederholt sich. Verteilt sich. Verändert sich. Wird seriell. Falte in Falte. Faltung in Faltung. Grenze in Grenze. Hamacher schreibt: »Die Falte ist nicht eine –: sie ist keine Einheit, sei’s der Anschauung, sei’s des Begriffs, und ist insofern keine Falte, ihr Ausfall, ihr Nichterscheinen gehört zur Struktur alles dessen, was erscheint«. 20 Die Falte ist kein Objekt, weder ein materielles noch ein ideelles Objekt. Die Falte legt das Sichtbare in eine unscheinbare Mannigfaltigkeit zusammen. Falte ist nicht, ist mehr, ist anderes.

 

 

1        G. W. Leibniz: Prinzipien der Natur und der Gnade, auf Vernunft gegründet, § 13, quoted: after ibid.: Monadologie. Stuttgart: Reclam 1982, p. 64.

2        Cf. Georges Didi-Hubermann: Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks. Cologne: DuMont 1999.

3        Cf. Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock. Frankfurt / Main: Suhrkamp 2000, p. 48.

4        G. W. Leibniz: Prinzipien der Natur und der Gnade, loc. cit., p. 63.

5        G. W. Leibniz: Die Theodizee II. Philosophische Schriften, Band 2.2. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1999, p. 247.

6        Cf. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. Werke 20. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1986, p. 236 f.

7        G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Werke 3. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1983, p. 590.

8        Martin Heidegger: Der Satz vom Grund. Pfullingen: Neske 1978, p. 55.

9        G. W. Leibniz: Theodizee II, loc. cit., p. 261.

10      Jean-Luc Nancy: Das Gewicht eines Denkens. Düsseldorf, Bonn: Parerga 1995, p. 65.

11      Ibid., p. 78.

12      Ibid., p. 76 f.

13      Jacques Derrida: Dissemination. Vienna: Passagen Verlag 1995, p. 258.

14      Cf. ibid., p. 282.

15      Ibid., p. 293.

16      Werner Hamacher: Maser. Bemerkungen im Hinblick auf Hinrich Weidemanns Bilder. Berlin: Galerie Max Hetzler 1998, p. 52.

17      Ibid., p. 293.

18      Cf. Werner Hamacher: Amphora (Extracts). In: Assemblage. A Critical Journal of Architecture and Design Culture, no. 20 (1993), p. 40.

19      Werner Hamacher: Maser, loc. cit., p. 53.

20      Werner Hamacher: Maser, loc. cit., p. 64.