2019 Zawrel

Peter Zawrel

Eröffnungsrede im Raum für Kunst im Lindenhof in Raabs an der Thaya
2019

Meine letzte Eröffnungsrede für Fritz Ruprechter am 7. September 2018 in Vršac, das ist eine Stadt in der südlichen Vojvodina an der rumänischen Grenze, habe ich mit der Feststellung eröffnet, dass Fritz Ruprechter in der österreichischen Kunst eine Ausnahmeerscheinung ist, weil er seit Jahrzehnten an der Vertiefung einer Kunst der Einfachheit arbeitet. Da ich das Ergebnis unserer ersten Zusammenarbeit genau 30 Jahre davor, am 7. September 1989 in der damaligen Blau-Gelben Galerie des Niederösterreichischen Landesmuseums in der Wiener Herrengasse, eröffnet habe, war diese Erkenntnis nicht ganz neu für mich.

Was aber heute neu ist für mich, das ist die Erkenntnis, dass diese Einfachheit, die ich an den Begriffen "konkret", "minimalistisch" und "geometrisch" festgemacht habe, sich paradoxerweise auch ganz anders beschreiben ließe, etwa mit "organisch", "naturalistisch" und "poetisch". Ich möchte gerne bei der Poesie bleiben, auf die Gefahr hin, dass mich einige unter Ihnen nach den ersten Zeilen des folgenden Gedichtes einer schweren Themenverfehlung bezichtigen mögen:
Grenzenloses Land kommt in die Haarspitze des Pinsels herein
Segel sind in den herbstlichen Fluss gefallen und verborgen im abendlichen Dunst
Der letzte Abendschein ist noch nicht erloschen
doch beginnen schon die Lampen der Fischer zu flimmern
Zwei Greise im Boot sprechen gelassen vom Land Jiang-na.

Diese unglaublich bildhaften Verse sind nicht etwa von Hermann Hesse, dem Chinesen in Montagnola, sondern von einem echten Chinesen, nämlich dem Maler Yü-Chien. Der hat vor rund 750 Jahren gelebt und ein Bild gemalt, zu dem dieses Gedicht gehört, mit dem Titel „In die ferne Bucht kamen Segelboote zurück“. Was das mit Fritz Ruprechter zu tun hat?

Nun, zwei Räume weiter begegnen Sie seiner fotografischen Erinnerung an seine Erinnerung an ein Bild von Yü-Chien. Es wird wohl ein anderes gewesen sein als das, welches dem Gedicht zugrunde liegt (oder liegt umgekehrt das Gedicht dem Bild zugrunde?), ein mehr regen- als abendverhangenes, denn eingefangen hat Fritz Ruprechter die Erinnerung an das Bild von einem Platzregen im Garten der Universität von Chengdu im Jahr 2005. Weil er eine kleine Digitalkamera dabeihatte, konnte er diese Fotos machen. Man könnte sagen, diese Kunstwerke sind ihm „passiert“. Aber einem, der die Kunst des japanischen Bogenschießens, Kyudo, meisterhaft beherrscht, dem „passiert“ nicht einfach etwas.

So, wie im Kyudo jeder Weg des Pfeils ins Ziel der Ausdruck einer dem Tun angemessenen Haltung ist, sind die Werke von Fritz Ruprechter Ausdruck einer konkreten, der Welt angemessenen Haltung, die nichts abbildet, nichts kommentiert, nichts interpretiert. Deswegen zeigen uns seine Bilder nichts im herkömmlichen Sinn, sondern öffnen uns „nur“ einen Raum – der leer ist, und nichts wird uns erklärt. Und so ist es auch mit diesen Fotografien, Schnappschüsse eigentlich, aber im selben Moment auch alles andere: die bildgewordene Erinnerung an eine Erinnerung, der Ausgangspunkt für andere Werke, eine Art Scharnier zwischen der Kunst Fritz Ruprechters und der geläufigen Wahrnehmung von Bildern. Wieso das?

Was für die ostasiatische Malerei im Allgemeinen und für jene von Yü-Chien, mit dem Fritz Ruprechter sich intensiv befasst hat, charakteristisch ist, ist eine Circumspektive, die der europäischen Perspektive entgegensteht, weil sie nicht auf eine Richtung ausgerichtet ist, sondern alle Blicke in alle Richtungen umfasst, den Umblick wie den Nachblick, den Aufblick wie den Rückblick. Circumspektivisches Denken ist ein „ökologisches“ Denken im philosophischen Sinn, weil es den Menschen und die Dinge im Oikos denkt, im Haus der Welt: Im Oikos denkt der Mensch sich selbst von seiner Umwelt her, und nicht als Beziehung eines Subjekts zu Objekten und zu anderen Subjekten. Die Circumspektive kennt daher keine Hierarchie, wie sie unserem zentralperspektivischen Sehen seit der Renaissance eingeschrieben ist. Erst in der Kunst der Moderne wurde in Europa wieder auf die mittelalterliche Parallelperspektive zurückgegriffen.

Machen die Bilder von Fritz Ruprechter nicht genau das? Zwischen die Fotografien hat er kleine Materialbilder gehängt, Aquarelle auf Karton, ganz geometrisch, auf Plexiglas geklebt, grau-grün – aber das sind auch die Farben des Regens und der Pflanzen, die man in den Fotografien (nicht) sieht, ehestens erinnert. Die zwei großen Tafeln gegenüber nehmen diese Elemente auf; aus den organisch wirkenden Fotografien und den streng geometrischen und gleichermaßen höchst malerischen Flächen entsteht ein Raum der Beziehungen, ein circumspektivischer Oikos.

Für mich ist diese Werkgruppe – die ich bislang nicht gekannt habe, weil ich eine Ausstellung im Künstlerhaus in Wien vor 13 Jahren versäumt habe – so spannend, weil sie uns einen neuen, weiteren Schlüssel zum Werk von Fritz Ruprechter in die Hand gibt, und zwar genau hier, im Dialog mit allen anderen, viel bekannteren Werken, mit denen es sich genauso verhält. In einer Ausstellung über die „Erinnerung in der Fotografie“, wie vor 13 Jahren, hat diese Werkgruppe eine ganz andere Geschichte erzählt.

Aus Faltungen und dem Spiel von aquarellierten und lackierten Streifen entstehen in den Bildwerken Hell und Dunkel, Licht und Schatten, ein Raum im Bild und Bilder, die den sie umgebenden Raum umgestalten. Die Fläche verneint aber jeglichen Illusionismus. Es geht bei Fritz Ruprechter – so wie bei Josef Albers, dessen maßgeblicher Experte in Österreich er ist – nicht um die Abstraktion eines Gegenständlichen, sondern um die Vergegenständlichung eines abstrakt Geistigen in Farbe und Form auf einem Bildträger. Genauso verhält es sich mit der Fotografie, auch da geht es "nur" um die Vergegenständlichung eines abstrakt Geistigen namens "Erinnerung".

Fritz Ruprechter hat das ungewöhnliche Raumangebot der Galerieräume im Lindenhof dafür genutzt, Werkgruppen zusammen zu fügen, die man nicht ohne weiteres in einem einzigen Raum miteinander kombinieren könnte – ein großer Gewinn vor allem für uns, die Besucher und Betrachterinnen. Was wir von seiner Kunst lernen können, ist, dass das, was wir zu sehen vermeinen, nicht existiert. Es gibt in seinen Bildern kein Oben und kein Unten, kein Vorne und kein Hinten, keinen Horizont. Seine Bilder sind schon seit langem konsequent vertikal strukturiert, das heißt, einer menschlichen Ordnung verpflichtet. Horizontal werden Himmel und Erde getrennt, das Göttliche und das Menschliche. Die Vertikale stört diese Ordnung, erschafft eine neue, in der sich der Mensch seine eigene, konkrete Ordnung schafft.

Wie es eine konkrete Kunst gibt, gibt es eine konkrete Wissenschaft, als deren Wegbereiter man den barocken Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz ansehen könnte. Anhand seiner Gedankenwelt hat der französische Philosoph Gilles Deleuze in seinem Buch Le pli (Die Falle), Leibniz et le Baroque ausgeführt, wie die Welt zu einer Virtualität mutiert, die aktuell nur in den "Falten der Seele" existiert. Von solchen Faltungen, in denen sich eine virtualisierte Welt verbirgt, sind wir hier umgeben.

Fritz Ruprechters "Nachdenken im Tun" "mit dem Zweck der Vertiefung und Verfeinerung des Werks", wie das Walter Zschokke vor 20 Jahren treffend beschrieben hat, steht dem unreflektierten Handeln in unserer gegenwärtigen Gesellschaft gegenüber, über das, wenn überhaupt, meistens zu spät nachgedacht wird. Fritz Ruprechters Werk, ob gemalt, gefaltet oder fotografiert, lädt uns ein, die Welt in den Faltungen unserer Seele zu entdecken, anstatt unsere Seele in der Welt finden zu wollen. Seine Kunst lädt uns auch ein, der als naturgegeben missverstandenen Perspektive mit Misstrauen zu begegnen. Eine oekologische Circumspektive könnte sich als überlebensnotwendig herausstellen.

Peter Zawrel

 

Peter Zawrel (*1956) von 2013 bis 2021 Geschäftsführer im Künstlerhaus in Wien, war 1999 bis 2011 Geschäftsführer des Filmfonds Wien, 1987 bis 1999 in verschiedenen Funktionen in der Kulturabteilung des Landes Niederösterreich/Niederösterreichisches Landesmuseum tätig, davor als freiberuflicher (Kunst)Historiker in Wien und Rom. Er hat in Wien das Studium der Deutschen Philologie, Kunstgeschichte und Geschichte absolviert und ist seit 1983 Mitglied des Instituts für österreichische Geschichtsforschung.