Walter Zschokke
Nachdenken im Tun
1999
Das insistierende Wiederholen eines scheinbar gleichen Vorgangs beim Ausüben einer handwerklichen, körperlichen oder künstlerischen Tätigkeit mit dem Ziel der Vertiefung und Verfeinerung des Werks, der Bewegung oder der Aussage, hat es in unserer schnelllebigen Zeit nicht immer leicht. Vom Hochleistungssport abgesehen, der perfekte Bewegungskoordination und entsprechendes Gefühl erfordert, vermag sich
eigentlich nur mehr künstlerisches Arbeiten mit Themen und Aufgaben befassen, die vom Mainstream der Kulturindustrie als überholt abqualifiziert und ohne langes Federlesen weggewischt werden.
Der modernistische Irrtum, dass das jeweils Neue alles Bisherige zu ersetzen vermöge, ist weit verbreitet und gleicht mittlerweile einem Automatismus der
im täglichen Verdrängungskampf zu unbedachter Zer störung verleitet. So wird mit wiederkehrender Regelmäßigkeit die eine oder andere Kunstform oder eine bestimmte Kunstrichtung für tot erklärt. Bei diesem Herbeireden handelt es sich meist um pure Ideologie oder verdecktes Wunschdenken. Bei genauerer Betrachtung der kulturgeschichtlichen Vorgänge zeigt sich nämlich, dass Neues vorerst zum Bestehenden dazu kommt. In der Folge wird eine längere, weder für das eine noch für das andere voreingenommene Praxis in unserer komplexen gesellschaftlichen Realität zu jenen Erkenntnissen führen, die über ein sinnvolles Verhältnis von Fortentwicklung, Bestand und Nebeneinander Auskunft geben.
Der konkrete Künstler Fritz Ruprechter befasst sich seit einigen Jahren mit einem gestalterischen Verfahren, dessen Möglichkeiten, Grenzen undÜberschreitungen
er auf der handwerklich technischen Ebene systematisch auslotet und dessen vielfältige Bildwirkungen er Gefühl und Gespür überlässt sowie dem bewusst eingesetzten Zufall. In seiner bedächtigen Art verändert er in ausholenden Arbeitsschritten jeweils einen einzelnen Parameter und untersucht die neuen Wirkungen an mehreren, oft zahlreichen Werken. Durch dieses breite Nach denken im Tun, man könnte es auch systematisches Ausüben nennen, gelangt er zu neuen Erfahrungen und Erkenntnissen, die sich in feinster Differenzierung in den darauf folgenden Arbeiten wieder konkretisieren und zu Bildern verdichten.
Das Verfahren besteht darin, dass er lange Streifen flächiger Ausgangsmaterialien mit schrägen Markie rungen unterschiedlicher Häufigkeit und Dichte versieht, sie der Länge nach in schmalere Streifen schneidet und in zufälliger Abfolge wieder aneinanderfügt.
Dies ergibt durch die vertikale Anordnung eine kolonnenartige Strukturierung des Gesamtbildes analog der eines zeilenartigen Aufbaus bei horizontaler Anordnung. Die addierten Streifen erscheinen als Träger unbekannter Codes, die optisch mit jenen auf dem, beziehungsweise den benachbarten Streifen interagieren, so dass sich Überlagerungen und Interferenzen ergeben. Da niemand, auch er selber nicht, diese Codes kennen kann, weil sie dem Zufallsprinzip entspringen, ergibt sich für den Betrachter eine bildhafte Gesamtwirkung, wie dies bei Kalligraphien fremder Kulturen oder beispielsweise der Knotenschrift der Inkas der Fall sein kann. Wir projizieren weitläufige Zusammenhänge, wissen aber nicht um deren auch dem Künstler verschleiert bleibende Bedeutung. Dieser Aspekt gewollter Offenheit, die den Betrachter unmittelbar ins Bild hineinzieht, ist eine wesentliche Eigenschaft der Werke Fritz Ruprechters.
Für seine Arbeiten verwendet er vornehmlich alltägliche, oder sogar _ärmliche_ Ausgangsmaterialien, die wenig Geld kosten. Über eine längere Phase dienten ihm handelsübliche Schleifpapiere verschiedener Körnung mit entsprechend wechselnder Materialfarbe als _Grundierung_. Die streifenartigen Markierungen erzeugte er aus hauchdünnen Metallfolien, deren Oxidationsprozess in die Bildwirkung integriert wurde.
In jüngster Zeit wechselte er zu allgemein erhält lichen Papiersorten: Packpapiere, Zeichenkartons in verschiedenen Farben und Transparentpapiere. Die schrägen Markierungen werden sparsamer gesetzt, dafür erfolgt eine flächige Überarbeitung mit farblosem Wachs, das durch Hitzeeinwirkung kurzzeitig seinen Aggregatzustand ändert. Eine materiale Verfremdung erfolgt durch die Zufallsvorgänge beim Schmelzen, Eindringen des flüssigen Wachses ins Papier, bis zum Ansengen von Teilbereichen durch das heiße Eisen. Damit wird die Grundtexturüberlagert von einem Transformations- und Alterungsprozes, der nach Beenden der bearbeitenden Einwirkung gleichsam erstarrt.
Die flächigen Bilder wirken randlos ausschnitthaft. Die schrägen Markierungen ordnen sich, nach Kontrast, Platzierung und Nähe zu Gruppen, Figuren und Abfolgen, deren Zusammenhalt und Zusammenhang ein flüchtiger ist. Wie bei Kippfiguren ergeben sich mehrere Ansätze zu Lesarten, je nachdem wovon Betrachterin oder Betrachter ausgehen. Die Markierungen in, auf oder vor dem changierenden Grund erscheinen als Streifen, Schlitze oder wegen des zufälligen Trefferbildes gar als Narben von Hieben, was auf das prozesshaft verfahrensmäßige der Entstehung verweist.
Die nicht zu übersehende räumliche Wirkung dieser Bilder, besonders der großen Formate, ist beabsichtigt. In stark gebundenen architektonischen Räumen, wie beispielsweise dem Wiener Wittgensteinhaus oder der Galerie desÖsterreichischen Kulturinstituts in Prag, hat Ruprechter Proportion und Format auf vorhandene Fensteröffnungen oder Nischen abgestimmt. Dennoch wirken diese Bilder weniger analog zu einem Ausblicks- fenster, sondern eher wie ein leuchtender Schirm, der in der Zone davor, quasi durch Abstrahlung, eine räum-liche Verdichtung erzeugt. In einer zweiten Lesart entsteht jedoch in einer Art virtueller Transparenz die Ahnung eines spirituellen Raumes jenseits des vorhangartigen Schleiers der Bildoberfläche.
Ein gedankliches Eindringen in den Inhalt der vielschichtigen Bildfläche führt in eine unbekannte Zeit: Vergangenheit? - Zukunft? - permanente Gegenwart? Der eigenartig halbtransparente Schleier der Bildoberfläche verhüllt gleichsam eine reflexive Schicht vor einem vermuteten Raum in der Tiefe, in welcher Betrachtende ihre Seelen oder
ihre gegenwärtige Verfassung spiegeln mögen. Anlässlich solch eingehender Anschauung vermittelt und überträgt sich zugleich das prinzipielle Verfahren, jenes absichtslose Nachdenken im Tun, beim praktischen Ausüben der Bildherstellung. Damit ergeben sich strukturelle Verwandschaften zu künstlerischen japanischen Kulturpraktiken, die Fritz Ruprechter aus eigener Anschauung undörtlicher Erfahrung kennt: Bogenschießen (Kyudo), Kalligraphie (Shodo) oder weitere sparsam verfeinerte Tätigkeiten des Alltags. Seine Bilder verlocken daher zum Innehalten, zu Entspannung, Erholung und Ausgleich.
Bei manchen seiner Werke ist eine Art Zurücknahme feststellbar. Der schnellen optischen Wahrnehmung entziehen sich diese Bilder durch Aufhellen oder Abdunkeln. Die Inhalte werden dadurch sublimiert, und der Betrachter wird angehalten, sich tiefer einzulassen und sich der nachhaltigen Wirkung auszusetzen. Auf diese Weise birgt jedes Bild längere Ausschnitte aus dem vom Künstler beschrittenen Annäherungs- und Selbstklä rungsprozess. Das Kunstwerk wird in seiner Verdichtung zu einem Kraftspeicher, der beim Betrachten Energie abgibt und sich zugleich auflädt.